Die produktive Stadt: Wie Industrie 4.0 das Standortwahlverhalten verändert

Wo entstehen die Arbeitsplätze der Zukunft?
Wo entstehen die Arbeitsplätze der Zukunft?

von Linn Holthey, HafenCity Universität Hamburg

Werden zukünftig wieder mehr Unternehmen – wie einst Handwerksbetriebe und gründerzeitliche Industriebetriebe – mitten in der Stadt produzieren? Schon seit geraumer Zeit setzen Stadtplaner und Gewerbevisionäre darauf, dass aktuelle Tendenzen in der Produktion Arbeiten und Wohnen wieder näher zusammenbringen. Damit könnte nicht nur das Verkehrsaufkommen reduziert, sondern auch Produktionsjobs im städtischen Raum gesichert werden. Unter der plakativen Überschrift der „Produktiven Stadt“ werden unterschiedliche Konzepte zur Förderung und Stärkung urbaner Produktion diskutiert. Eine einheitliche Begriffsbestimmung ist gleichwohl nicht erkennbar. Smart Factories, urbane Manufakturen, Gewerbehöfe für das traditionelle Handwerk oder neue, kleinteilige Produktionsformen wie FabLabs – die produktive Stadt hat viele Gesichter und Namen.

Eine besondere Rolle in den Visionen der Stadtplaner spielt jedoch die zunehmende Bedeutung der Industrie 4.0: Neue Technologien wie additive Fertigungsverfahren (3-D-Druck), Cloud Computing oder Cyber-Physische-Systeme sorgen, so die Erwartung, für flächensparende und emissionsarme Produktionsprozesse und ermöglichen eine größere städtische Nutzungsdurchmischung (vgl. Fraunhofer Institut IPA 2018; Läpple 2016; Bullinger 2015). Soweit die Theorie. Fundierte Einschätzungen des produzierenden Gewerbes zum Einfluss von Industrie 4.0 auf ihre Standortpolitik sind hingegen bisher kaum bekannt.

Finden die Visionen der Stadtplanung in der unternehmerischen Praxis ihre Entsprechung? Um diese Frage zu beantworten, wurden im Rahmen einer Masterarbeit mittlere und große Unternehmen des produzierenden Gewerbes befragt. Dabei wurde davon ausgegangen, dass vor allem größere Unternehmen signifikante Arbeitsmarkt- und Wachstumsimpulse liefern können und bei der Implementierung von Industrie 4.0 eine Vorreiterrolle spielen. Anders als in der bisherigen Diskussion um die „Produktive Stadt“ lag der Fokus also nicht auf kleinteiligen Produktionseinheiten. Einbezogen wurden Unternehmen aus den Branchen Medizintechnik, Metallverarbeitung, Maschinenbau, Chemie und Konsumgüter.

Trotz ihrer Größe befinden sich die befragten Unternehmen noch am Anfang des Wandels zu Industrie 4.0. Bislang existieren nur erste Vorstellungen und Annahmen darüber, wie sich die Produktion im Zuge von Industrie 4.0 langfristig verändern wird. Dennoch konnten im Rahmen der Arbeit einzelne qualitative Auswirkungen von Industrie 4.0 auf die Standortanforderungen von Unternehmen des produzierenden Gewerbes identifiziert werden. Gleichzeitig wurde der Frage nachgegangen, auf welche Aspekte sich eine Förderung von urbaner Produktion konzentrieren muss.

Verfügbarkeit und digitale Vernetzung ersetzen räumliche Nähe

In der Literatur wird davon ausgegangen, dass städtische Standorte für Unternehmen Vorteile vor allem durch die räumliche Nähe zu Forschungseinrichtungen, Weiterbildungszentren, Dienstleistern sowie zu Kunden und Lieferanten bringen(vgl. Lentes 2014; Bathelt & Glückler 2012). Im Zuge der Digitalisierung haben sich allerdings der Zugang zu Wissen und die Kommunikationsprozesse bereits deutlich verändert. Mit der verstärkten Nutzung von Industrie 4.0-Technolgien könnte sich diese Entwicklung weiter verstärken. Wissen ist oft nicht mehr standortgebunden, sondern kann mit Hilfe verschiedener Medien (digitale Plattformen, 3-D-Datenbrillen etc.) leichter und schneller ausgetauscht werden. Durch neue Kommunikationsmittel kann eine virtuelle Nähe geschaffen werden, die sich auf bislang standortgebundene Tätigkeiten wie etwa Service oder Wartung erstrecken kann. Vor diesem Hintergrund gehen die Gesprächspartner davon aus, dass Industrie 4.0 tendenziell zu einer Abwertung der Bedeutung von räumlicher Nähe führen wird. Die Generierung von Innovationen und die Förderung des Wissenstransfers scheinen in der Industrie künftig eher weniger von räumlichen – und damit städtischen – Faktoren abzuhängen.

Die Verfügbarkeit von Highspeed-Internet als neuer Standortfaktor

Aufgrund der zuvor erläuterten Tendenz, dass räumliche Nähe in Zukunft verstärkt durch „virtuelle“ Nähe ersetzt werden kann, wird sich die Verfügbarkeit von Highspeed-Internet zu einem zentralen Standortfaktor auch für Unternehmen des produzierenden Gewerbes entwickeln. Die unternehmensübergreifende digitale Vernetzung mit Lieferanten und Kunden sowie die Digitalisierung von internen Produktions- und Kommunikationsprozessen spielen nach Aussage der Befragten zukünftig eine zentrale Rolle. Aus diesem Grund wird die Verfügbarkeit und Anbindung an das Glasfasernetz nach deren Einschätzung an Bedeutung gewinnen. Städtische Räume könnten in dieser Hinsicht einen Vorteil aufweisen, da in der Stadt der Breitbandausbau und die Anbindung an ein schnelles Datennetz stärker fokussiert werden als periphere Räume.

Wichtiger Standortfaktor: Flächenverfügbarkeit

Die Flächenverfügbarkeit ist ein zentraler Standortfaktor für produzierend-gewerbliche Unternehmen – sowohl im urbanen als auch im suburbanen Raum. Es wird vielfach davon ausgegangen, dass im Zuge von Industrie 4.0 etwa durch intelligente Lagersysteme Fläche eingespart werden könnte; eine Reduzierung der tatsächlichen Produktionsfläche wird von den befragten Unternehmensvertretern jedoch überwiegend nicht erwartet. Durch Industrie 4.0 könnte der Flächenbedarf der Unternehmen nach deren Einschätzung sogar zunehmen, da der Produktion ausreichend oder mehr Fläche zur Verfügung stehen muss, um flexibler auf Veränderungen reagieren zu können. Aufgrund der geringen Flächenverfügbarkeit in der Stadt könnten urbane Standorte für große und mittlere Unternehmen des produzierenden Gewerbes daher auch zukünftig gewisse Nachteile aufweisen. Denkbar ist jedoch, dass dies für einzelne ausgewählte Technologien nicht gilt. So besteht beispielsweise die Erwartung, dass Betriebe, die Verfahren wie den 3-D-Druck nutzen können, in Zukunft weniger Fläche benötigen werden. Dadurch könnte ein Potential für urbane Produktionen entstehen, das im Fokus weiterer Analysen, eventuell sogar bei der Entwicklung von entsprechenden Fördermaßnahmen, stehen sollte.

Bedeutung der Verkehrsinfrastruktur

Von den Gesprächspartnern wird erwartet, dass der Wandel hin zu Industrie 4.0 aufgrund geringerer Losgrößen in der Produktion eine Veränderung, möglicherweise sogar eine Zunahme des Lieferverkehrs mit sich bringen wird. Die Verkehrsanbindung gewinnt damit auch für diese Betriebstypen weiter an Bedeutung. Logistische Aspekte sind entsprechend bei der Entwicklung von Ansätzen zur Stärkung von urbanen Produktionen umfassend zu berücksichtigen. Dies gilt auch für die Erreichbarkeit der Standorte durch die Mitarbeiter. Es muss in diesem Zusammenhang verstärkt über neue, innovative Verkehrs- und Mobilitätskonzepte nachgedacht werden, was auch eine Einbeziehung der Verkehrsplanung bei der Entwicklung von Ansätzen der „Produktiven Stadt“ notwendig macht.

Linn Holthey
Linn Holthey

Über die Autorin

Linn Holthey ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Stadtplanung an der HafenCity Universität in Hamburg.

Kontakt: linn.holthey@hcu-hamburg.de

Entwicklung des Arbeitskräftebedarfs

Die Frage, wie sich der Arbeitskräftebedarf im Zuge von Industrie 4.0 entwickeln wird, ist Gegenstand zahlreicher teils im Ergebnis unterschiedlicher Studien und wird auch in den Unternehmen intensiv diskutiert. Im Rahmen der Befragung konnten drei Argumentationsszenarien identifiziert werden, die sich unterschiedlich auf die Standortpolitik von Unternehmen auswirken. So könnte auf der einen Seite der Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften als Folge der steigenden Komplexität der Produktionsprozesse zunehmen; urbane Standorte könnten damit aufgrund der höheren Verfügbarkeit an qualifizierten Arbeitskräften an Bedeutung gewinnen. Auf der anderen Seite wird von den Unternehmen diskutiert, ob zukünftig weniger qualifizierte Mitarbeiter in der Produktion benötigt werden. Der hohe Automatisierungsgrad und sich selbst steuernde intelligente Maschinen könnten dazu führen, dass Mitarbeiter nur noch für einfache Aufgaben benötigt werden. Setzt sich dieser Trend durch, könnten urbane Standorte aufgrund hoher Kosten für Flächen und Personal nachteilig sein. Die dritte Möglichkeit besteht in einer Kombination der beiden skizzierten Trends. Unternehmen könnten in einer Implementierungsphase qualifizierte Arbeitskräfte mit besonderem Expertenwissen benötigen. Im Anschluss könnten niedrig qualifizierte Mitarbeiter die hoch automatisierten Maschinen betätigen.

Auswirkungen auf das Standortwahlverhalten

Bei der Standortwahl eines Unternehmens spielen oftmals im Konflikt stehende Interessen eine wichtige Rolle: die der Mitarbeiter und die der Produktionseffizienz. Ein Unternehmen muss stets zwischen beiden Interessen abwägen. Welche zukünftig überwiegen und entscheidend für die Wahl des Standorts sein werden, dürfte stark davon abhängen, wie sich der zuvor erläuterte Arbeitskräftebedarf bei den Industrieunternehmen entwickeln wird. Es ist zu erwarten, dass ein rückläufiger Arbeitskräftebedarf nach Produktionsmitarbeitern zu einer Schwächung der Argumente für die „Produktive Stadt“ führt.

Förderung urbaner Produktion durch Neugründung

Unternehmensstandorte sind oftmals historisch gewachsen, und auch die befragten Unternehmen zeichnet eine starke Standortpersistenz aus: Aufgrund von Kostenfaktoren oder der Gefahr, den Mitarbeiterstamm zu verlieren, verlagern die Unternehmen ihren Standort generell selten. Die Befragungen haben gezeigt, dass es von den Gesprächspartnern als sehr unwahrscheinlich angesehen wird, dass die Unternehmen ihren Standort im Zuge von Industrie 4.0 aus dem Umland wieder (zurück) in die Stadt verlagern werden. Eine Stadtplanung, die auf die Stärkung der urbanen Produktion abzielt, sollte daher Neugründungen fokussieren.

Industrie 4.0 bedingt keine Dezentralisierung kleinteiliger Produktionsstandorte

Das gegenwärtig im Kontext von Industrie 4.0 vielfach diskutierte Konzept der Smart Factory soll mit Hilfe intelligenter Verknüpfungen von Maschine, Mensch und Cloud die Dezentralisierung (und gleichzeitig Vernetzung) von Produktionsschritten ermöglichen (vgl. Fraunhofer IPA 2015). Im Gegensatz dazu haben die Interviews ergeben, dass die Unternehmen den Trend zur Smart Factory im Sinne einer Dezentralisierung von kleinteiligen Produktionsstandorten sowohl gegenwärtig als auch in absehbarer Zukunft nicht verfolgen. Abhängig vom Produktionsprozess (z.B. 3-D-Drucker) oder der Branche sind allerdings vereinzelt Tendenzen in Richtung dezentraler Standortmuster erkennbar. Im Gegensatz zu der Annahme, dass Industrie 4.0 kleinteilige urbane Produktionsstätten befördert, könnten Digitalisierung und Industrie 4.0 jedoch zur Konzentration von Produktionsschritten an einem Ort führen. Insbesondere Serienfertigung und die Herstellung von höheren Stückzahlen könnten verstärkt in den suburbanen Raum abwandern.

Verschiedene Planungshorizonte der Unternehmen und der Stadtplanung

Eine zentrale Herausforderung bei der Förderung und Stärkung urbaner Produktion ergibt sich aus den unterschiedlichen Planungshorizonten von Unternehmen und Stadtplanung. Aufgrund kürzerer Produktlebenszyklen und sich stetig verändernden Marktbedingungen wird für Unternehmen eine langfristige Planung immer schwieriger, ohne signifikant an Geschwindigkeit und Flexibilität zu verlieren. Meist beträgt daher der tatsächliche Planungszeitraum von Produktionsprozessen fünf Jahre. Im Gegensatz dazu ist es für die Stadtplanung wichtig, künftige Trends und Entwicklungen frühzeitig zu identifizieren, um nachhaltige Raum- und Stadtentwicklungskonzepte für die Zukunft zu entwickeln. Hierbei handelt es sich um Horizonte, die über 15 Jahre hinausgehen. Gerade mit Blick auf die Stärkung der „urbanen Produktion“ stellen diese unterschiedlichen Planungshorizonte eine große Herausforderung dar. Um erfolgreich zu bleiben, wird es immer wichtiger werden, Konzepte zu entwickeln, die im Sinne einer „Flexiblen Stadt“ auch in der Flächennutzungsplanung ein notwendiges Maß an Flexibilität realisieren.

Industrie 4.0 – Chancen und Herausforderungen für die produktive Stadt

Trotz des Hypes um die Industrie 4.0-Technologien: Gerade große und mittlere Industrieunternehmen sehen in städtischen Standorten nach wie vor große Herausforderungen und bleiben skeptisch gegenüber den Möglichkeiten einer „Produktiven Stadt“ nach den Vorstellungen der Stadtplaner. So werden die verschiedenen Aspekte einer vernetzten Produktion hinsichtlich der positiven Auswirkung auf eine innerstädtische Produktion überwiegend mindestens ambivalent eingeschätzt.

Anders wird die Situation für das kleinteilig produzierende Gewerbe gesehen: Hier könnten wiederbelebte tradierter Hinterhoflagen, innerstädtische Gewerbehöfe oder FabLabs durchaus geeignete Räume sein, um eine stärkere Nutzungsmischung in der Stadt zu befördern.


Quellen

Barthelt, H.; Glückler, J. (2012): Wirtschaftsgeographie. Ökonomische Beziehungen in räumlicher Perspektive. 3. Aufl., Stuttgart.

Lentes; J. (2014): Fünf Gründe, warum wir in der Stadt produzieren sollten. Online abrufbar:
https://blog.iao.fraunhofer.de/fuenf-gruende-warum-wir-in-der-stadtproduzieren-sollten/ (Stand: 01.12.2017)

Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA (IPA) (2018): Urbane Produktion. Online abrufbar:
https://www.ipa.fraunhofer.de/de/Kompetenzen/effizienzsysteme/urbane-produktion.html

Läpple, D (2016): Produktion zurück in die Stadt. Ein Plädoyer, in: Stadt Bauwelt. Die Produktive Stadt. 23. September 2016. 211.35, S.23-29.

Bullinger, H. (2015): Holt die Produktion zurück in die Stadt! In: Manager-Magazin. Veröffentlicht am 27.12.2015. Online abrufbar:
http://www.managermagazin.de/unternehmen/industrie/deutschland-holt-die-produktion-zurueck-indie-stadt-a-1068115.html (Stand: 06.02.2017).

Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA (2015): Studie: Industrie 4.0 – Chancen und Perspektiven für Unternehmen der Metropolregion Rhein-Neckar. (Hrsg.): Industrie- und Handelskammern Rhein-Neckar, Pfalz und Darmstadt Rhein Main Neckar. Online abrufbar:
https://www.pfalz.ihk24.de/blob/luihk24/innovation_und_umwelt_und_energie/d89ownloads_channel/2962316/f9c0f019d072a7c5581140ae4f166dc0/Studie-Industrie-4-0-Metropolregion-Rhein-Neckar-data.pdf (Stand: 10.01.2018).

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